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Inflation: hin zu einem neuen landwirtschaftlichen Modell?

Die Situation ist unbestritten: Acht Milliarden Menschen können mit den heutigen Produktionsbedingungen nicht mehr ernährt werden. Die Akteure, vor allem die jüngere Generation, müssen sich den Herausforderungen bewusst sein, die es anzunehmen gilt. Ihnen, aber auch der älteren Generation, stehen großartige Möglichkeiten offen.

Auf den HORSCH Praxistagen 2022 in Frankreich erklärte Philippe Dessertine, Volkswirt und Mitglied des Haut Conseil des Finances Publiques (Hoher Rat der Öffentlichen Finanzen), dass seit Januar 2020 die Gesundheits-, geopolitischen und wirtschaftlichen Krisen den Blick auf die Landwirtschaft drastisch verändert haben. Vor allem die Finanzwelt hat verstanden, dass es ohne die Landwirtschaft, die die Bevölkerung ernährt, keine Wirtschaftstätigkeit mehr gibt! Da sie sich dessen bewusst sind, investieren die Akteure in die Landwirtschaft. Und ihre Kapazitäten liegen deutlich höher als die des Budgets der GAP.
Die inflationären Mechanismen sind Teil der Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt – in den Industrieländern, aber vor allem in den ärmeren Ländern, wo die Spannungen rund um die Nahrungsmittelversorgung die Ursache von Instabilität sind. Philippe Dessertine betonte daher: „Der jungen Generation muss heute vermittelt werden, dass die Landwirtschaft strategisch wichtig ist.“

Inflation bremsen

Der Volkswirt erinnerte daran, dass die Inflation auf ein Missverhältnis zwischen Geld und Wohlstand zurückzuführen ist. Zu viele Schulden im Verhältnis zum erreichten Wohlstand ist der Nährboden der Inflation. 2007/2008 belief sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf 80.000 Mrd. US-Dollar und die weltweite Verschuldung auf 140.000 Mrd. Heute liegen diese Zahlen bei 92.000 bzw. 250.000 Mrd.! Eine Situation, die es also bereits vor Corona gab und die durch die Erhöhung der Barmittel noch verstärkt wurde. Die Zinssätze und die niedrigen Energiekosten haben über dieses Phänomen hinweggetäuscht. Die Energiekrise verbunden mit dem Konflikt in der Ukraine war dann der Auslöser.
Eine der Ängste, die die Inflation nährt, ist die Preis/Gehalt-Spirale: Die Firmen erhöhen die Gehälter als Reaktion auf die steigenden Preise. Daher steigen natürlich die Personalkosten, was sich dann wiederum auch auf die Preise auswirkt. „Inflation ist ein Rennen, bei dem keiner gewinnt“, warnte Philippe Dessertine. Allerdings kann man die Situation bewältigen, wenn alle Akteure das gleiche Verhalten an den Tag legen: kein Bargeld zurückhalten und Zahlungsfristen verkürzen. Das Geld verliert an Wert, aber die Konsequenzen sind für alle gleich. Um wieder herauszukommen, muss man weiterhin Wohlstand schaffen – nicht auf Fluchtwährungen wie Gold, Edelsteine oder Grund und Boden ausweichen – und dabei weiter investieren.

Veränderung der Wertschöpfung

Angesichts der aktuellen Herausforderungen – klimatisch und demografisch – hat laut Philippe Dessertine die Landwirtschaft eine einzigartige Chance: eine Wertschöpfung, die auf dem Aspekt der Nachhaltigkeit der Produktion beruht und auf der Fähigkeit, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Was zählt, ist weniger das Finanzergebnis eines Unternehmens als vielmehr die Wirkung (für die Umwelt, den Menschen, die Gesellschaft…), wie beim Hersteller Tesla, dessen Bewertung deutlich über der der Konkurrenten liegt, die mehr Fahrzeuge produzieren. Die Investoren müssen den neu geschaffenen Wert messen. Das geht über die Verwaltung der Daten (gespeicherter Kohlenstoff, agrarökologische Indikatoren, Erträge…), eine Quelle der Wertschöpfung für die Landwirte. Philippe Dessertine verglich diese Veränderung des Wirtschaftsmodell mit dem Übergang vom Pferd zum Automobil. Und bei dieser Veränderung stützt sich die Wertschöpfung vor allem auf den Menschen: ohne Produzenten gibt es keine Landwirtschaft.

Hin zu einem neuen Gleichgewicht

Christian Huyghe, wissenschaftlicher Direktor des INRAE (Institut National de Recherche pour l’Agriculture, l’Alimentation et l’Environnement = Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt) nahm diese Gedanken auf und beschrieb die Grundlagen eines neuen landwirtschaftlichen Modells. „Bei jeder Wende muss man sich über die Ziele einig werden, die man erreichen möchte“, erläuterte er. Eines der Probleme ist die weltweite Lebensmittelsicherheit vor dem Hintergrund der zunehmenden Urbanisierung. Das bedeutet große logistische Herausforderungen für die Lebensmittelproduktion, die die Entwicklungsländer immer schwerer meistern können. „Um sich zu ernähren, nehmen die Menschen die Tiere mit in die Städte. Dadurch erhöhen sich natürlich die gesundheitlichen Risiken“, erklärte Christian Huyghe. So stellt sich die Frage nach der Ernährungswende und nach der Analyse des tatsächlichen Bedarfs an Proteinen. Für Christian Huyghe sind eine Neuorganisation der Nahrungskette und neue Gleichgewichte essentiell. Dabei muss man die notwendige Reduzierung des Gasausstoßes und des Treibhauseffekts berücksichtigen.