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Ein Gletscher im Feld

In einer Welt, die immer schnell­lebiger wird und in der die Anforderungen ständig steigen, ist es schwierig, einmal inne­zuhalten, einen gewissen Abstand zu gewinnen zu dem, was man tut, und aufs Große und Ganze zu blicken.

Oft richtet sich die gesamte Aufmerksam­keit auf die Pflanzen­schutz­mittel-Problematik. Das gilt für die Öffentlich­keit unter dem Umwelt­aspekt, aber auch für unsere eigene unter dem Gesichts­punkt Wirt­schaft und Technik. Man denkt oft, dass der Pflanzen­schutz der wichtigste Ertrags­faktor bei Getreide oder Reihen­kulturen wie Mais ist. Allerdings wissen wir alle – Agrar­chemie und Landwirte – genau: Das Klima und seine Unwägbar­keiten, Wasser­mangel (oder das Gegenteil!), Hagel etc. sind die am meisten begrenzenden Faktoren.

Eine Studie, durch­geführt von Biochem & Mol Biol Plants, Buchanan, Gruissem, Jones und der American Society of Plant Physiologists zum Einfluss von verschiedenen Stress­faktoren auf die Erträge von Mais, Weizen, Soja, Sorghum, Gerste und Hafer hat diese Beobachtung aus der Praxis bestätigt: Abiotische Stress­faktoren haben deutlich mehr Einfluss als ihre biotischen Entsprechungen. Unter abiotischen Stress­faktoren versteht man alles, was durch Extrem­situationen das Wachstum hemmt, z.B. Trocken­heit, zu viel Wasser, besonders niedrige oder hohe Temperaturen. Biotische Stress­faktoren sind alle Angriffe durch lebende Organismen wie z.B. Pilze, Bakterien, Insekten oder Unkräuter. In den USA haben Pilze und Unkräuter einen negativen Einfluss von 5 bis 10 % auf den Ertrag aller oben­genannten Kulturen. Beim Stress­faktor Klima­wandel liegt dieser Prozent­satz zwischen 66 und 82 %.
Doch was tut die Forschung, um die Erträge angesichts der Klima­veränderung und vor allem des Wasser­mangels zu stabili­sieren?
Die Glaziologin Heidi Sevestre war die Haupt­rednerin bei einer Tagung zum Thema Klima­wandel, die vom AGtech-Unternehmen Elicit Plant in Frankreich organisiert wurde. Sie verband ganz konkret die Folgen des Abschmelzens der Gletscher mit dem Klima­wandel und mit der Nutzung landwirt­schaftlicher Flächen. Unter­haltsam und mit viel Humor sprach sie buch­stäblich eiskalt über ihren Stand­punkt. terraHORSCH fasst ihren Vortrag zusammen.

Aus einem Land namens Svalbard

Heidi Sevestre wohnt in der Arktis. In einer Gegend, in der zwangs­läufig kein Getreide angebaut wird: in Spitz­bergen. „Das ist eine Insel­gruppe, die vom Eis beherrscht wird. Der Boden ist permanent gefroren. Es ist ein Paradies für Glaziologen. Dort leben mehr Eisbären als Menschen und es liegt direkt am Packeis. Wir wohnen in Longyearbyen, dem Epizentrum des Klima­wandels. Wussten Sie, dass sich Europa statistisch gesehen schneller auf­heizt als der Rest der Welt? In Svalbard, so heißt die Insel­gruppe auf norwegisch, schreitet die Erwärmung fünf- bis sechsmal schneller voran als im welt­weiten Vergleich. In den letzten 50 Jahren sind die Temperaturen dort um 3° bis 5 °C gestiegen. Deshalb haben wir den Eindruck, in der Zukunft zu leben. Täglich sehen wir die Folgen dieser Erwärmung: Schmelz­wasser, Lawinen, Regen im Winter. Aber was ist der Grund für dieses schnelle Schmelzen? Je größer und älter eine Eis­scholle ist, desto weißer ist sie und desto mehr reflektiert sie die Sonnen­strahlen – so wird der Planet gekühlt. Wir brauchen also diese weißen Flächen. Doch in den letzten Jahr­zehnten haben wir sie zerstört. Vor einigen Monaten wurde eine Studie veröffentlicht: Es könnte sein, dass wir bis 2030 Sommer ohne Eis erleben werden. Wir über­schreiten nach und nach den klimatischen Wende­punkt.“

Die Bedeutung der Gletscher

Die Wissen­schaftlerin fährt fort: „Was verbindet nun die Gletscher­welt mit der Landwirt­schaft? Der rote Faden, der uns alle hier im Saal vereint, ist das Wasser. Ohne Wasser kommen wir nicht weit. Das Wasser bekommt gerade die volle Wucht des Klima­wandels zu spüren. Stellen Sie sich unsere Wasser­reserven vor, unsere Flüsse, die Haupt­schlag­adern unseres Landes. Wasser ist Leben, das, was jeden Tag unsere Aktivitäten antreibt. Wir haben uns daran gewöhnt, immer Wasser, Regen und unter­irdische Reserven zu haben. Doch das ändert sich gerade. Am auf­fälligsten ist der Rückgang der Gletscher, z.B. des Trient­gletschers in den Schweizer Alpen. Das ist das beste Klima­barometer. Man kann den CO2-Anstieg natürlich messen, aber man sieht ihn nicht. Wenn jedoch ein Gletscher ver­schwindet, dann sieht man das. Und mit den Gletschern, die ver­schwinden, ver­schwinden auch die natürlichen Trink­wasser­reserven. Aber woher kommt das Wasser in Europa? Vor allem aus den Bergen. Wir brauchen Wasser: zum Trinken, zur Erzeugung von Energie, zur Kühlung unserer Atom­kraft­werke, für den Tourismus und für die Land­wirtschaft. Jede Tonne CO2, die in die Atmosphäre abgegeben wird, lässt jedoch die Wasser- und Schnee­reserven schmelzen. Es steht zweifels­frei fest, dass wir die Gletscher der Pyrenäen verlieren werden. Bis zum Ende des Jahr­hunderts werden auch die Gletscher der Alpen verschwinden.“

Einfluss der Winde

„Wie die Winde sich auf der Erde zwischen Europa und der Arktis entwickeln, hängt teil­weise davon ab, dass die Arktis gefroren ist. Ist das der Fall, können wir einen stabilen Polar­wirbel erkennen. Einfacher gesagt: Je kälter die Arktis ist, desto schneller drehen sich die Winde. So entstehen die Jahres­zeiten“, erklärt Heidi Sevestre. Der sogenannte Jet­stream, der aus polaren und sub­tropischen Strömungen besteht, führt nämlich dazu, dass sich die Wetter­phänomene in Europa gleich­mäßig von Westen nach Osten bewegen. Tief­druck­gebiete stehen für regne­risches und windiges Wetter, während Hoch­druck­gebiete klare Wetter­bedingungen mit sich bringen. Der Jet­stream ist verantwort­lich für den Kreis­lauf der Hoch- und Tief­druck­gebiete, aus denen sich unsere Jahres­zeiten zusammen­setzen.

Allerdings wird der Temperatur­unterschied zwischen der Arktis und Europa immer geringer. „Je kleiner der Temperatur­unterschied wird, umso langsamer werden die Winde. Und wie ein Fluss, der immer langsamer fließt, beginnen die Winde dann Mäander zu bilden. Es kann Luft­massen geben, die von Süden nach Norden strömen, wie es bei heißen und trockenen Perioden der Fall ist. Oder Luft­massen, die aus der Arktis kommen und Früh- oder Spät­frost verursachen. Und diese Bedingungen können sich über Tage, ja sogar Wochen fest­setzen.“ So kann ein Hoch­druck­gebiet lange am selben Ort bleiben. Je nachdem, wo sie sich befinden, gibt es bei einem Hoch­druck­gebiet entweder Hitze- oder Dürre­perioden oder starke Regen­fälle – und das über Wochen hinweg. „Gehen sie regel­mäßig auf windy.com. Dort wird die Entwicklung der Winde auf der Erde gezeigt. Dieser Jet­stream, dessen Mäander immer ausge­prägter werden, zeigt uns, wie sich das Wetter komplett verändert.“ Die Jahres­zeiten, wie wir sie bisher kannten, wechseln laufend. Es entsteht gerade ein völlig neues Bezugs­system.
Doch Vorsicht: Heidi Sevestre stellt klar, dass der Klima­wandel nicht überall gleich aus­geprägt ist. Der wellen­förmige Jet­stream durch­läuft die ganze Welt. Einige Regionen sind anfälliger für Kälte­perioden, während es in anderen Regionen heißer wird. Diese neuen Wind­strömungen sorgen für Chaos. Dabei sind die Gegenden, die am stärksten vom Klima­wandel betroffen sind, nicht immer die schwächsten. Die Karten in puncto Nahrungs­mittel­sicher­heit werden lang­fristig neu gemischt, wie auch die Studien der IPCC von 2023 deutlich zeigen.

Weniger Wasser … mehr Wasser?

„Das Schmelzen des Eises in Verbindung mit einem Temperatur­anstieg der Ozeane sorgt für einen Anstieg des Meeres­spiegels. Das ist nicht neu. Der Meeres­spiegel steigt aktuell um 3 bis 4 mm pro Jahr. Aber diese Zahl kann mit dem Abschmelzen des Eises in Grönland und in der Antarktis, den größten kontinentalen Eis­reserven der Erde, noch steigen.“ Im Moment verliert Grönland im Sommer mehr Eis, als im Winter entsteht – die Mengen­bilanz ist also negativ. „Folglich steigt der Meeres­spiegel. Wenn das Eis in Grönland komplett schmilzt, wird der Meeres­spiegel welt­weit früher oder später um 6 bis 7 m steigen. Und wenn auch noch das Eis der Antarktis komplett ver­schwindet, sind auch 58 m vorstellbar. Am Ende des Jahr­hunderts werden wir im günstigsten Fall 50 cm mehr Wasser haben. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass das auch sehr viel schneller passieren kann.“
Dieser Anstieg hat natürlich eine Aus­wirkung auf die Meeres­strömung, die auch das Klima bestimmt. Damit die Strömungen gut funktionieren, sind Temperatur­unterschiede beim Wasser und auch Unter­schiede im Salz­gehalt und in der Dichte nötig. Das Wasser der Polar­gebiete heizt sich schneller auf als anderswo. Und das Eis macht das Wasser weich. Ebenso kann man eine Verlangsamung der Strömungen dieser ozeanischen Gewässer fest­stellen. Das Klima, wie wir es kennen, wird dadurch weit­gehend auf den Kopf gestellt werden.

Wer setzt CO2 frei?

„Durch die Klima­erwärmung verändern sich gerade die dauer­haft gefrorenen Böden, der Perma­frost.“ Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass 25 % der Nord­halb­kugel aus diesen Böden besteht. Wenn sie schmelzen, setzen sie eine große Menge CO2 frei, aber auch Methan, das das Klima 80 Mal stärker erwärmen kann als CO2. „Heute scheint es, als würde das Schmelzen der Perma­frost­böden genauso viel Treib­haus­gas frei­setzen wie ganz Japan. 2100 wird es möglicher­weise so viel sein wie Indien, Europa, ja sogar die USA, abhängig von den zusätzlichen Temperatur­graden, die erreicht werden. Wir werden mit den Emissionen des Perma­forst zurecht­kommen müssen. Ein weiteres Phänomen, das damit zusammen­hängt? Es könnten neue Land­flächen verfüg­bar werden.“

Bedeutender Einfluss auf die Landwirtschaft

Nach einem Bericht des von den Vereinten Nationen ins Leben gerufenen Ausschusses IPCC aus dem Jahr 2020 wird theoretisch zwischen 2060 und 2080 59 % zusätzliche landwirt­schaftliche Nutz­fläche zur Verfügung stehen. Russland scheint in dieser Hinsicht besonders begünstigt zu sein. Vor allem für die Weizen­produktion in Sibirien. Ebenso wie Kanada, wo es auch viele Perma­frost­böden gibt, die auftauen werden. „Aber all diese Flächen sind Kohlen­stoff­senken. Und wir müssen sie intakt halten, um die globale Erwärmung zu begrenzen und so letzt­endlich ein aus­reichendes Maß an Ernährungs­sicherheit aufrecht­erhalten zu können.“
Natürlich werden die Landwirte auf der Nord­halb­kugel durch die Klima­erwärmung mehr Macht bekommen. Aber der internationale Durch­schnitt der Erträge wird sinken, während die Welt­bevölkerung weiter wächst. Die Zuwanderungs­ströme werden sich aufgrund dieser Verschiebung der landwirt­schaft­lichen Nutz­fläche und der Ertrags­potenziale verstärken. Deshalb müssen wir dringend die Erwärmung und damit auch den Einfluss der Landwirt­schaft auf diese neu verfügbaren Flächen begrenzen.
Abgesehen davon, dass wir uns auf den Makro­aspekt konzentrieren, ist es offen­sichtlich, dass die Klima­erwärmung durch die Störung der Jahres­zeiten die vegetativen Entwicklungs­zyklen der traditionellen Kulturen erschwert. Wir werden vielleicht, aber das ist nicht sicher, die gleichen jähr­lichen Nieder­schlags­mengen haben – aber mit extremen Wetter­phänomenen über lange Zeit­räume: Frost, Dürre, Über­schwemmungen.
Wie schon zu Beginnn des Artikels sei noch einmal daran erinnert, dass der Großteil der der­zeitigen Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der Landwirt­schaft für Herbizide und Fungizide aufgewendet wird, obwohl der Klima­wandel die Erträge zu 66 bis 82 % beeinflusst.
Aber was kann die Forschung dann dagegen tun, die Erträge bei klimatischen Veränderungen, insbesondere Mangel an Wasser, zu erhalten?

Ist es schon zu spät?

„Was kann man tun? Man muss um jeden Bruch­teil eines °C kämpfen. Die Maßnahmen, die wir heute ergreifen, werden noch weit vor Ablauf von 30 Jahren Vorteile bringen. Wenn wir die Zügel schleifen lassen und +3 °C erreichen, können wir ziemlich sicher davon aus­gehen, dass einige Schwellen über­schritten werden, wo es für die Öko­systeme kein Zurück mehr gibt. Die neuesten wissen­schaft­lichen Studien scheinen z.B. zu zeigen, dass bei einem Temperatur­anstieg von mehr als 2 °C in Grönland eine irrever­sible Destabili­sierung beginnen könnte. Genauso wie in der West­antarktis, bei einem Groß­teil der tropischen Korallen­riffe, beim Perma­frost­boden der Nord­halb­kugel, beim Eis der Barents­see und bei einem Groß­teil unserer Berg­gletscher. Das Verschwinden dieser Öko­systeme könnte den Klima­wandel noch weiter beeinflussen. Aber wir müssen um jeden Baum, jede Wiese, jede Kohlen­stoff­senke kämpfen. Jedes Zehntel­grad, das nicht hinzu­kommt, kommt ALLEM zugute, dem Wasser und der Nahrungs­mittel­sicherheit. Wir müssen dekarbo­nisieren. Die Regierungen und die Firmen tun etwas. Da können wir ganz beruhigt sein.“ Der Artikel in der letzten Ausgabe der terraHORSCH über die Agro­foto­voltaik ist ein gutes Beispiel. Wir müssen diesen Weg weiter­gehen. „Die Landwirt­schaft ist ein Teil des Problems – wie wir alle. Aber die Landwirt­schaft ist auch eine Lösung!“, fasst Heidi Sevestre zusammen.

Fazit

Bei HORSCH sehen wir auch technische Möglich­keiten. Diese berück­sichtigen mehr und mehr die mit dem Klima­wandel verbundenen Risiken. In einigen Gegenden wird vor­rangig Direkt­saat betrieben, um die Boden­feuchtig­keit zu erhalten. Unser Focus wird häufig genutzt, um die Probleme mit der Wasser­verfüg­bar­keit, der Sicherung der Raps­aussaat in trockenen Bedingungen oder die Platzierung von Dünger auf verschiedenen Horizonten zu lösen, um seine Verfüg­bar­keit bei Aus­trocknung der oberen Schichten zu gewähr­leisten. Die Anforde­rungen an die Boden­bearbeitung gehen in Richtung Viel­seitig­keit (intensive Mischung, flache Bearbeitung, Riss­bildung, Dünger­platzierung) und Präzision, um auf unter­schied­liche Klima­bedingungen reagieren zu können. Wir stellen auch einen Trend zu einem höheren Durch­satz fest, um die optimalen Arbeits­fenster abzu­sichern, die tendenziell immer enger werden.